Venezuela TEIL 19

21Jul06

Roberto war der geborene Entertainer. Er zeichnete sich nicht nur als gewitzter Pfadfinder aus, der unerschrocken jeder Widrigkeit der venezolanischen Fahrkartenschalterbürokratie trotzte, sondern gebot auch über ein gigantisches Repertoire an Flachwitzen, Lebensweisheiten und guten Sprüchen für den richtigen Moment. Zudem war er ja gestählter Fremdenführer gewesen und konnte natürlich nicht umhin, uns hier und da besonders markante Flecken während unserer Passage gen Puerto de la Cruz näherzubringen.
Jennie und ich hatten das Freilos, als Paar zu reisen und somit stets einen guten Zweiersitz für uns alleine, während Thorsten als Noch-Single den Posten des geduldigen Zuhörers neben unserem neuen Mannschaftskapitän einehmen durfte.


Die Fahrt war entspannend und Jennies aus Deutschland mitgebrachter Walkman, in den ich sogleich meine durchgenudelten Tapes voll deutscher Rapmusik stopfte, versüßte mir die Entkrampfungsphase nach unserer neuerlichen Bahnhofstortur.
Der Bus donnerte recht humorlos mit nur einer Unterbrechung über den Asphalt und so kamen wir in der Abenddämmerung am Fährhafen von Puerto de la Cruz an. Kaum hatte der Fahrer den Zündschlüssel umgedreht, sprangen auch schon alle Fahrgäste auf und es verbreitete sich eine ärgerliche Hektik, in der jeder versuchte, sich als erster durch den Ausstieg zu quetschen und sich den Sprintpokal für das schnellste Koffer-aus-dem-Stauraum-Zerren zu verdienen. Meine rechte Augebraue, die zu solchen Gelegenheiten immer das gern gesehene Dreieck der Missbilligung bildete, wollte schon wieder routinemäßig das sogenannte Warndreieck aufstellen, aber Roberto bedeutete uns mit der Miene eines Geheimagenten, uns umstandslos ebenfalls in dieses Getümmel zu werfen. Nachdem wir feststellten, dass in dem lustigen Royal Rumble um das eigene Gepäck auch gerne Ellbogenstöße und versteckte Knieattacken eingesetzt wurden, fielen bei uns alle Hemmungen und wir zogen in einem beherzt vorgetragenen Manöver unsere Rucksäcke aus den Klappen.
Viel Zeit zum Luft holen blieb uns allerdings nicht, denn Roberto peitschte uns weiter an. Nachdem die Meute den Bus geleert hatte, wogte das Heer wild gewordener Kofferathleten auch schon zum Terminal der Fährgesellschaft und auch dabei waren gesittetes Gehen und Diskretion eher untergeordnete Tugenden. Bevor wir auch nur eine kleine Frage bezüglich dieser Fahrgastolympiade an unseren schlitzohrigen Trainerfuchs stellen konnten, hatte sich dieser schon eine beachtliche Schneise durch die Masse erarbeitet und pflügte mit der Urgewalt eines Brontosaurus dem Kartenschalter entgegen und machte dabei einen mindest ebenso langen Hals wie sein fossiles Vorbild, um sich zu vergewissern, dass wir auch mit seinem Tempo schritthalten konnten. Als unsere rasante Gangart langsam ins Stocken kam, blieb uns auch endlich die Zeit, zu erkennen, warum dieser Husarenritt so notwendig gewesen war und wie unsere Situation ausgesehen hätte, wenn wir wie falkenhaynsche Zauderer mit falscher Vorsicht vorgegangen wären.

Es schien nämlich so zu sein, dass nur eine einzige Fähre pro Tag den Weg nach Margarita machte und diese Fähre wohl auch nicht über die Kapazitäten verfügte, um dem Kundenansturm Herr zu werden. Somit war die Rechnung, wie man an sein Ticket gelangen konnte, auf das Wesentliche reduziert: Die Schnellsten und Stärksten bekamen die besten Plätze und der schwache Rest durfte sich deprimiert seine Nasen draußen an der Glasscheibe plattdrücken. Doch zum Glück war unser Held Roberto das beste Beispiel für die darwinsche Deszendenztheorie, da er sich durch eine unerschütterliche Routine bestens an die chaotischen Verhältnisse seiner venezolanischen Bus-Bahn -und Schiffumwelt angepasst hatte. Wenig später hatte er tatsächlich vier Karten in der Hand und schwenkte sie so freudestrahlend in der Luft, als habe er eine Überfahrt auf der Beagle selbst klargemacht.
Thorsten und ich wussten, dass wir ohne seine Hilfe mal wieder an dieser Hürde gescheitert wären und waren immer froher, diesen Superhelden bei uns zu haben.
Dass wir nun zu dem erlauchten Kreis derer gehörten, die sich ziemlich schnell die Karten für die Überfahrt besorgen konnten, bedeutete leider nicht, dass es auch sofort losgehen konnte. Natürlich waren noch viele Fahrgäste hinter uns und hinter denen standen noch mehr in einer sich windenden und tobenden Schlange. Wir gingen wieder heraus und betteten uns auf unsere Rucksäcke und gönnten uns eine wohlverdiente Zigarette.

Roberto erzählte uns von seinem Haus und von seinem schönen Garten. Er meinte, dass die Überfahrt immer wieder ein Abenteuer sei und dass sich die Einheimischen jedesmal fast häuslich auf der Fähre einrichten würden. Dass die Venezolaner eh fast nie alleine reisten, sondern gerne im familiären Pulk auftraten, hatten wir ja schon früh mitbekommen. Und dass dann auch der halbe Hausstand zum Reisegepäck gehörte, war uns ebenfalls bekannt. Robertos Auftritt als Einzekämpfer veranlasste uns schließlich zu der Frage nach seinem Familienstand. Er gestand uns, dass er momentan in Trennung von seiner Frau lebe, die Schauspielerin sei und dass er auch keine Kinder habe und deshalb ein glückliches Junggesellenleben in seinen fürstlichen Gemächern auf der schönsten Insel der Welt führe.
Nachdem er noch etliche kluge Weisen auf seiner Mundharmonika der Lebenserfahrung gespielt hatte und wir somit von Minute zu Minute erhellter und bereiter für das Wandeln in der endlosen, unwegsamen Steppe, die er das Leben nannte, wurden, legte sich auch der Tumult am Terminal und diejenigen, die das Pech hatten, aufgrund ihrer mangelnden Cleverness oder sonstiger Handicaps wie zu kurze Beine, zu dicke Bäuche oder zu runde Ellenbogen, keinen Termin am Schalter erhalten zu haben, mussten nun bis zum nächsten Tag warten, um es erneut zu versuchen. Die Schalter fuhren auf jeden Fall erbarmungslos ihre Rollläden herunter und wir machten uns bereit, den Sturm auf die Fähre in Angriff zu nehmen.

Das Gate war zwar noch nicht geöffnet, aber wir stellten uns in gewohnter, deutscher Tradition schon mal an. Wie lächerlich dies nun war, habe ich viele Jahre später längst begriffen und heute weiß ich, dass man nicht gleich beim kleinsten Zucken am Abfertigungschalter zu denen gehören muss, die wild aufspringen, um ihre vier Buchstaben möglichst günstig in der Schlange zu platzieren. Besonders schwachsinnig erscheint mir dies immer wieder an Flughäfen, wo eh jeder einen festen Platz hat und man sich deswegen nicht unbedingt schon eine Stunde vorher anstellen muss. Doch nach den rüden Szenen zuvor, in denen wir eine so glänzende Rolle gespielt hatten, waren wir sozusagen etwas verschreckt und wollten dem Gerempel dieses Mal möglichst entkommen.
Doch ich erwähnte ja bereits das Prädikat „lächerlich“ für dieses unser Verhalten. Wir standen da nämlich wie bestellt aber nicht durchgewunken am geschlossenen Gate und kein Angestellter der Fährgesellschaft sah es ein, dort aufzukreuzen und uns zur längst vor Anker liegenden Fähre durchzulassen. Es geschah nichts. Die Schlange der Wartenden wurde länger und länger und bildete schon wieder ihre charakteristischen Kurven und wir waren die Speerspitze der Alleingelassenen, mit Clownsnase und Narrenkappe.
Diese Situation wirkte sich so unangenehm in unseren Bäuchen und Köpfen aus, dass der Begriff „déja vu“ längst nicht mehr ausreichte, um diesen Superlativ des Bewusstwerdens, des Einsehens, der Erkenntnis, wieder einmal Opfer einer offensichtlichen Willkür des Beförderungspersonals geworden zu sein, zu beschreiben. Es war viel mehr das schon 100 mal gesehene, durchlebte, erlittene, irgendwann als normal empfundene aber immer noch nervende Erlebnis der abgestumpften Teilnahmslosigkeit. Das ungläubig vor sich hinstarrende Gesicht fest auf das verwaiste Gate gerichtet, wollte man am liebsten laut loschreien. Man wollte denen, die einen so grausam ausharren ließen und den glühenden Dolch derr Passivität noch fünf Mal im wunden Wartefleisch drehten, zurufen, dass doch alles bereit sei und dass es doch keinen Grund gebe, noch länger zu warten. Doch verstiegen wir uns nicht zu solch einer Verzweiflungstat, sondern sanken alsbald ziemlich trübe wieder auf unsere Rucksäcke zurück.
Dieses Bangen und Hoffen zog sich noch kurz bis Mitternacht hin und wir hatten also seit unserer Heldentat vom frühen Abend gute fünf Stunden damit zugebracht, als bedröppelte Statisten in der längsten Warteschleife des Landes herzuhalten und die einheimischen Komparsen dafür zu bewundern, wie stoisch ruhig sie diese erneute Unanehmlichkeit hinnnahmen. Es war eigentlich unfassbar: Erst tut sich die Hölle vor den Schaltern auf und alle drängeln und schubsen wie die Verrückten und anschließend erstarrt das ganze Szenario in absoluter Ruhe und Tatenlosigkeit. Mein Gott, wenn wir uns erst wieder in Deutschland in irgendwelche nichtigen Schlangen stellen würden, dann täte unser dickes Fell dem Hintermann aber ganz schön in der Nase kratzen. Und dass unsere Geduld immer mehr trainiert wurde, war ja letztendlich nichts Schlechtes und so waren wir auch schon wieder recht vergnügt, als es dannn endlich möglich war, das Schiff zu besteigen.
Die Fähre bot leider keinerlei Comfort und auch die wenigen Holzbänke, die der Innenraum zu bieten hatte, waren schnell vergeben. Wir ließen uns irgendwo zum Heck der Fähre treiben und beschlossen, uns einfach an Ort und Stelle auf den Boden zu setzen, weil wir wohl eh keinen besseren Platz finden würden. Kaum hatten wir uns eingerichtet, sprang der unglaublich ausdauernde Roberto auch schon wieder auf, um geheimen Tätigkeiten nachzugehen. Ich war mittlerweile so richtig müde und aufgebraucht, dass es mir auch egal war. Das Ausrollen meiner Isomatte und anschließende Drauffallenlassen war meine vorerst letzte erwähnenswerte körperliche Aktivität. Jetzt blieb mir genug Zeit, das Treiben um mich herum zu beobachten. Die Fähre füllte sich immer mehr und bald waren wir mehr als froh, dass es einen Verkaufsstopp gegeben hatte. Die Menschen tummelten sich dicht an dicht an jedem freien Platz und von diesem gab es bald keinen Zentimeter mehr. Die Leute legten sich wie ich einfach auf den Boden und machten es sich so gemtülich wie eben möglich. Der von Roberto schon erwähnte Hausstand spielte dabei keine unwesentliche Rolle und schon bald glich das Innendeck einer bunten Landschaft voller Klappstühle, Plüschkissen, Kühltruhen, Luftmatratzen und ausgebreiteter Decken. Sogar ein Sonnenschirm wurde weswegen auch immer aufgespannt. Eigentlich wirkte alles recht gemütlich und gesellig, wäre da nicht dieser schneidende Wind gewesen, der flott durch das offene Deck pfiff und der mich schnell dazu veranlasste, mich noch tiefer in meine T-Shirt Decke einzuwickeln.
So verbrachten wir die Nacht auf dem nackten Stahlboden des Schiffes liegend, während es uns der schönen Insel Margarita näherbrachte und ich habe tatsächlich bis kurz vor unserer Ankunft durchgeschlafen. Nun wachte ich aber mit einem Hunger auf, der feiste Löcher in meinen Magen riss und der allzeit patente Roberto stellte uns auch gleich den besten Imbiss der ganzen Insel in Aussicht, den wir natürlich sofort aufsuchen würden, wenn wir erst mal einen Bus in Richtung Porlamar erwischt hätten. Da war er wieder! Der Schreck, der uns mittlerweile bei dem Ausdruck „Bus erwischen“ erfasste und das kleine Hämmerchen, das bis jetzt hartnäckig meine Magengegend bearbeitet hatte, um auf den Hunger hinzuweisen, wurde durch einen handlichen aber beachtlichen Lehmhammer ersetzt, der es auf das Vortrefflichste verstand, meinem Schrecken das nötige innere Echo zu verleihen.
Also hieß es wieder einmal: Rucksack schultern und gute Miene zum altbekannten Spiel machen. Mit dröhnenden Mägen stolperten wir also Roberto hinterher und hofften darauf, dass er diese neue Herausforderung meistern würde.



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