Venezuela TEIL 18

30Jun06

Der Fahrstuhl schien an Seilen aus Kaugummi zu hängen. Ich hatte das Gefühl, irgendwo zwischen viertem Stock und der Unendlichkeit festzuhängen. Ungeduldig malträtierte ich den Knopf mit dem großen B (für la planta bacha=Erdgeschoss) unablässig mit der Faust und verstärkte die Fahrstuhlrandale zusätzlich mit gesalzenen Fußtritten. Murphys Fahrstuhlgesetz setzte das Gesetz der Schwerkraft mal wieder außer Kraft und die Tatsache, dass auch ein Fahrstuhl, der an Kaugummiseilen hing, trotzdem irgendwann mal in die Tiefe zu sinken hatte, stand nirgendwo auf Murphys Tafeln vermerkt. Überflüssigerweise hatte ich nun durch die fehlende Geschwindigkeit des Aufzuges genügend Zeit, mir meine unruhigen Gedanken in den schillernsten und quälensten Farben auszuschmücken. Eine Jennie, die auch nach der rüdesten Klopfattacke und der brachialsten Brüll-Tret Kombination nicht die Tür öffnete, hatte sich entweder dazu entschlossen, kein Bock mehr auf mich zu haben und sich durch das Fenster abgeseilt, um Venezuela alleine zu erkunden oder wurde von der achtarmigen Klammerkreatur aus Ghostbusters ans Bett gefesselt und war aus diesem Grund etwas unpässlich. Je länger ich im Aufzug ausharrte, desto wildere Kreaturen wurden in meiner Fantasie ersonnen und je länger ich auf den B-Knopf eindrosch, desto zerbeulter wurde er.

Aber der liebe Murphy hatte schließlich die Lust an seinem Gesetz verloren und so ließ er dann doch noch den Fahrstuhl ankommen, aber nicht ohne vor der sich öffnenden Fahrstuhltür zwei aufreizend bekleidete Damen zu platzieren, die ob meines ungebührlichen Betragens und der groben Behandlung, die ich dem, mittlerweile zu einem nur noch schwach leuchtenden Klumpen, zerhobelten Knopf angedeihen ließ, in missbilligendes Geraune verfielen und mich Wüterich ganz sicher von ihrer to-to Liste strichen. Das konnte mir eh recht sein und so beachtete ich die Fregatten kein Stück und stolperte ohne Umschweife gen Rezeption, um den dösenden Schaltermann für eventuelles Türaufbrechen oder weitreichendere Maßnahmen zu wappnen. Da ich mir meine Erklärungen schon vorher gut überlegt hatte, dauerte es auch nicht lange, bis er mir schlüsselklimpernd und demonstrativ in die Gegend gähnend folgte.
Wir nahmen wieder den Aufzug, der dieses Mal in Lichtgeschwindigkeit in die Höhe schoss und standen wenig später vor unserer Zimmertür. Der Schaltermann übte sich in vornehmer Diskretion und klopfte noch einmal vergebens. Dann schloss er die Tür einfach auf und ich bereitete mich schon darauf vor, etwaigen Zimmerbesetzern beherzt entgegenzutreten oder betrübt der wehenden Gardine hinterherzustarren. Blitzartig durchzuckte mich der Wunsch nach Thorstens Taschenmesser, aber ein Blick in seine Richtung genügte mir, um festzustellen, dass er es sicher für alle Fälle selbst in der Tasche hatte. Die Tür schwang also auf und wir lugten gemeinsam hinein. Ich hatte mich auf alle Spielarten der Überraschung vorbereitet, aber bei dem Anblick, der sich mir nun bot, war ich doch sprachlos.
Jennie lag, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Bett und schlief friedlich vor sich hin. Wir schauten uns an und schüttelten die Köpfe. Der Schaltermann machte ein eindeutig verdrießliches Gesicht und drehte sich wortlos auf dem Absatz um und verschwand verächtliche Blicke schleudernd im Fahrstuhl. Thorsten lachte kurz und ging pennen. Ich rüttelte dann an Jennies Schulter, um ihr mitzuteilen, dass ich nur ihrer Dornröschen-Tour wegen den Fahrstuhl demoliert, den Schaltermann aus seiner Bettlektüre hochgeschreckt und mir selbst mit Horrorvisionen zugesetzt hatte. Aber mehr als verschlafende und verständnislose Blicke waren nicht mehr zu erzielen und weil ich sie nicht noch unter Beirufung des örtlichen Spielmannszuges vernünftig aufwecken wollte, legte ich mich einfach daneben.

Am nächsten Tag war Heiligabend und Jennie und ich begingen diesen Tag der Besinnlichkeit einfach mal schön unkonventionell, indem wir als erstes den größten Flohmarkt der Stadt besuchten und uns danach einfach durch Caracas treiben ließen. Da wir eh nur einen gemeinsamen Tag in der Stadt hatten, beschlossen wir, uns gar nicht mit intensivem und unnötigem Besichtigungsterror aufzuhalten, sondern bummelten ein wenig und kehrten am späten Nachmittag in unser Hotel zurück, um den lieben Thorsten abzuholen und mit ihm ein angemessenes Lokal für den heiligen Schmaus ausfindig zu machen. Ein edles Feinschmeckerlokal kam eh nicht in Frage und da wir keine Lust hatten, lange durch die Straßen zu irren, griffen wir auf den bewährten Imbiss um die Ecke zurück. Da gab es eine gemütliche Neonbeleuchtung, lärmende Fernseher unter der Decke, die einem fortwährend verkündeten, wer diesen Tag wieder mal die Schönste im ganzen Land sei, lächerliche Mofaprolls, die sich gegenseitig die coolsten Zigaretten-in-den-Mund-werf-Tricks demonstrierten und eine gut sortierte Speisekarte, die vor allem monströse Hamburger, Empanadas, Arepas und sonstiges Fastfood im zumutbaren Preisrahmen bereit hielt. Also verbrachten wir unseren Heiligabend mal ganz abseits der gängigen Weihnachtsgans-Weihnachtsmusik-Weihnachtsbaum-Weihnachtsgeschenkauspack-Norm und schmausten uns durch die reichhaltigen Angebote und ließen dazu das leckere Polar fließen.

Wir gingen dann auch früh zu Bett, weil es den nächsten Tag wieder einmal sehr früh losgehen sollte. Unser tollkühner Plan sah es vor, am östlichen Busbahnhof eine Passage entweder nach Puerto de la Cruz oder Cumana zu ergattern, um von dort auf eine Fähre nach Margarita umzusteigen. Wir mischten uns also um sechs Uhr in der Frühe unter zahlreiche andere Reisende oder Pendler, die es ebenfalls zu dieser Zeit zum Ostbahnhof trieb. Thorsten und ich hatten im Vorwege schon mal auskundschaftet, wann ein Bus fahren könnte und an welchem Schalter man sich die Tickets zu kaufen hatte. Da wir dieses Mal so schlau gewesen waren, sämtliche Schritte mit einer perfekten Prophylaxe in den todsichersten Fahrplan aller Zeiten zu zementieren, liefen wir total überzeugt von unserem System im Bahnhof auf und ich bezog sogleich Stellung in der akzeptablen Schlange vor unserem Wunschschalter. Thorsten und ich diskutierten gerade in Abwesenheit Jennies, die die Rucksäcke hütete, über die körperlichen Attribute der Servicefrau am Schalter, als sich der Mann vor uns umdrehte und uns in fast lupenreinem Deutsch ansprach. Wir musterten den etwa 50jährigen neugierig und er stellte sich als Roberto vor. Er war Venezolaner und hatte in Deutschland studiert und danach lange Jahre bei Tui als Reiseführer gearbeitet. Er sprach wirklich augezeichnetes Deutsch und wirkte auf Anhieb ziemlich sympathisch. Er erzählte, dass er auch auf dem Weg nach Margarita sei, weil dort wohne und er sich gerne dazu bereit erklären würde, uns bei der Überfahrt zu helfen. Wir bedankten uns artig, versichterten ihm aber, dass wir keine Neulinge im Erwerb von Fahrkarten seien, wir uns aber auf jeden Fall über seine Gesellschaft freuen würden. So plauderten wir noch eine ganze Weile, bis mir irgendwann auffiel, mit welchem Tempo wir uns dem Schalter näherten. Die Durchschnittgeschwindigkeit hätte in jedem Matheheft eine hübsche Dezimalzahl abgegeben, leider mit einer Null vor dem Komma. Wir bewegten uns so atemberaubend gar nicht voran, dass man allmählich das Gefühl nicht los wurde, langsam rückwärts dem Ausgang entgegenzuwachsen. Mit einem kurzen Blick zum Schalter wurde uns der Grund für dieses Nichtvorankommen der Schlange eindrucksvoll präsentiert. Die Schalterfrau dachte nicht im geringsten daran, die wartenden Fahrgäste abzufertigen, sondern schwatzte lieber mit ihrer Kollegin im Schalter nebenan, der mittlerweile eine auch nicht zu unterschlagende Menschenmasse vor sich angehäuft hatte. Unter Zuhilfenahme einer Nagelpfeile, die ihr der Klischeegott persönlich vorbeigebracht haben musste, komplettierte sie das Bild der Aussichtslosigkeit. Die Menschen, die vor uns standen und ebenfalls nicht vorankamen, schienen aber nicht nervös zu werden.und gaben sogar zeitweilig vor, zu Statuen mutiert zu sein. Wir wurden natürlich prompt unruhig und sahen unseren unzerstörbaren Plan sich schon gleich am Anfang der Strecke zu bitterem Staub perforieren. Roberto sah unsere Gesichtszüge entgleisen und machte sich lachend auf die Pirsch, um die wahren Gründe für diesen Aufschub in Erfahrung zu bringen. Wenig später kam er mit der Nachricht zurück, dass die Busgesellschaft noch keine Tickets verkaufen konnte, weil der Bus nach Puerto de la Cruz noch nicht bereit stand und momentan wisse auch keiner, wann und wie die Fahrt vonstatten gehen sollte. Uns blieb also nichts anderes übrig, als in bester Busbahnhoftradition den Staub der Jahrhunderte anzusetzen und darauf zu warten und zu hoffen, dass sich der säumige Bus möglichst zügig an seiner Parkposition einfand.
Roberto hatte in der Zeit weiter lustig vor sich hin gequasselt und machte uns dann so ganz nebenbei ein recht großzügiges Angebot: Er lud uns kurzerhand ein, vorerst bei ihm in seiner Wohnung auf Margarita, die er inbrünstig als Fünf-Sterne Hotel anpries, unterzukommen. Wir waren natürlich überrascht über dieses unvermutete und freizügige Angebot und nahmen diese Einladung nach sehr kurzer Bedenkpause auch an, nicht zuletzt weil unsere Reisekasse uns flehentlich zuschrie, nicht wieder Geld für unnötig teure Unterkünfte wegzuschleudern und ihr doch lieber eine wohlverdiente Reha in Robertos Palast zu gönnen.
Er freute sich, uns als Gäste empfangen zu können und machte sich sogleich mit frisch aufgetanktem Enthusiasmus erneut auf Erkundungsgang nach den Tickets.
Gegen Mittag, nachdem wir uns an die sechs Stunden in der festbetonierten Schlange die Beine verkürzt hatten, kam dann endlich Bewegung am Schalter auf und Roberto verkündete stolz, dass der Bus, auf den alle gewartet hatten, endlich bereit stand und er es vorsah, der Einfachheit halber unsere Fahrscheine mitzukaufen und wir ihm dafür das Geld geben sollten. Da ich wie stets der gewissenhafte Schatzmeister war, klebte das Geld zwar kurz an meinen Fingern, aber Roberto schien wirklich eine ehrliche Haut zu sein und so ließen wir uns endgültig mit ihm ein…..



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