Venezuela TEIL 21

24Sept06

Er stand im Türrahmen wie ein großer Entdecker, der soeben den größten Schatz des Hauses einer erlesenen Besucherschar zur Bewunderung freigegeben hatte. Die Begeisterung, die sich in seinen Augen spiegelte, hätte man auch ohne weiteres auf das Antlitz des routinierten Indiana Jones abpausen können, der wieder mal dabei war, den mordlustigen aber stets unfähigen Ureinwohnern dieser Erde ihre wertvollen Schätze abzuluchsen.
Konnte es wahr sein? War das, was Roberto dort in seiner Hand hielt, wirklich das, wonach es aussah? Es bestand wohl kein Zweifel. Das, was er wie eine Trophäe vor sich hertrug, war nichts anderes als ein Kniffelspiel mit Würfelbecher und vier Stiften.
Verschmitzt grinsend setzte er sich wieder an den Tisch und verteilte die Blöcke.
Auch eine Methode ein Stück der deutschen Leihheimat im Herzen zu tragen. Da holt man einfach des öfteren mal den Kniffelbecher heraus und streicht sich schön die Kleinen und Großen Straßen an. Wir sahen natürlich ein, dass so ein klassisches Kniffelspiel alleine kein Spaß machen würde und und schrieben schmunzelnd unsere Namen auf die Blätter.

Schon nach dem ersten Full House war die alte Begeisterung für dieses Spiel wieder da und die Würfel flogen nur so über den Tisch. Roberto zeigte dann auch, warum er getrennt von seiner Frau lebte, da der Kerl ein unverschämtes Glück hatte und einen Kniffel nach dem anderen aus dem Becher kurbelte. Glück im Spiel, Pech in der Liebe schien sein Lebensmotto zu sein, denn er nahm uns im Laufe des Abends regelrecht auseinander und mir kam beiläufig der Gedanke, dass er vielleicht der Trainer der venezolanischen Kniffelnationalmannschaft sein könnte.

Nachdem auch der letzte Block vollgeschrieben war, schien es für uns an der Zeit, die Schlafstätten aufzusuchen, auch aus dem Grund, weil wir ja den nächsten Tag recht früh auf Erkundungstour nach einem gemütlichen und einigermaßen preiswerten Domizil für die nächste Woche gehen wollten.
Tagsdarauf klapperten wir die gesamte nördliche Ostküste der Insel ab und landeten schließlich in Playa el agua, einem ziemlich touristisch angehauchten Örtchen, welches aber genau die Art von Unterkunft für uns bereit hielt, welche wir uns vorgestellt hatten.
Wir mieteten uns für eine Woche bei einer netten, älteren Dame, die Herrin über ungefähr 20 weiße Pudel war, ein und wählten ein von ihren gemütlichen Bungalows, welcher 100 DM pro Tag kosten sollte, was zwar ungewöhnlich viel für unsere ausgeleierte Reisekasse war, aber sich durch vier Personen teilen ließ.
Ziemlich fußwund kehrten wir am späten Nachmittag zu Roberto zurück und stellten fest, dass der Knabe nicht zu Hause war. Wir machten das Übliche. Durch das Chaos im Wohnzimmer steigen, dem Skorpion in der Dusche einen Besuch abstatten, die neuerdings blinkende Küche bewundern oder noch ein paar verwelkte Pflanzen aus seinem Prachtgarten zu Grabe tragen. Schließlich waren alle diese Aufgaben erledigt und wir fragten uns allmählich, wo unserer pflichtgetreuer Gastgeber wohl bleiben möge.

Thorsten hatte sich in der Zeit schon daran gemacht, das Abendessen zu preparieren. Er war ja mittlerweile zum Meister der Arepas geworden. Ein Gericht aus Maisfladen, welche man beliebig mit verschiedenen Pasten aus Gemüse oder Fleisch belegen konnte. Während Thorsten die einzelnen Fladen lustig durch die Küche jonglierte und die einzelnen Pasten aus dem Ärmel schüttelte, hörten wir, wie die Gartenpforte sich öffnete und schauten gespannt um die Ecke. Und da kam er schließlich. Im Eilschritt durchmaß er seinen Vorgarten und warf dabei gehetzte Blicke nach hinten. Schweißnass stand er auf der Veranda und starrte uns mit verschleiertem Blick an. Ich stellte insgeheim schon die Vermutung auf, dass er sich erneut als Vorturner verdingt haben musste, aber diesmal als Konditionstrainer einer passionierten Marathonbruderschaft. Sollte es tatsächlich einen Moment geben, in dem Roberto seine Sprache verloren hatte und keinen gewitzten Kommentar mehr in seiner Sprücheschublade parat hatte? Tatsächlich schien dieser Moment jetzt gekommen zu sein und wir waren angsichts der Tatsache für kurze Zeit ebenso sprachlos. Wenig später war diese Szene vorbei und er packte sich wieder und verschwand weiterhin wortlos in seinem Schlafzimmer, um dort geräuschvoll irgenwelchen geheimen Tätigkeiten nachzugehen.

Thorsten, der Arepameister, ließ sich davon nicht beeindrucken und tischte uns mal wieder die lecktersten Produkte seiner Küchenkunst auf und wir riefen den säumigen Hausherren mit Nachdruck zu Tisch. Er kam schließlich um die Ecke geschlichen und setzte sich, als er die Arepa vor sich sah, mit einem wissenden Lächeln an den Tisch. Ich erwartete schon einen wissenschaftlich fundierten Monolog über die unendlichen Spiel -und Macharten von Arepas, doch der seltsame Roberto blieb weiterhin stumm und verzehrte fachmänisch sein Essen. Jennie erzählte ihm dann, was wir den Tag erreicht hatten und dass wir den nächsten Morgen nach Playa el Agua übersiedeln würden, um dort für die nächste Woche in der „residencia vacacional el agua“ in der Calle Miragua einen Bungalow zu beziehen. Diese Information schien ihm dann endlich die Sprache wieder zu entlocken.

Er vergab für das Örtchen die Auszeichnung „besonders sehenswert“ und beglückwünschte uns zu unserer Wahl. Wäre da nicht sein starrer Blick gewesen, hätte ich ihm ohne weiteres geglaubt, dass er sich für uns freute, aber es war etwas in seinem Benehmen, das mir sehr sonderbar vorkam. Er schwitze übertrieben, auch wenn es gewohnt warm war und er starrte aus schon fast unbeweglichen Augen am Tisch umher.
Mein Augenbrauendreieck war schon ausfahrbereit und auch Thorsten warf einen alarmierten Blick in die Runde. Roberto warf noch ein paar allgemeine Bemerkungen über lohnenswerte Ecken der Insel in die Runde und wechselte dann übergangslos das Thema.
Er fragte uns, was wir mit Psycholgie anfangen könnten und ob wir uns nicht auch öfters mal fragen würden, welchen größeren Sinn das Leben für uns bereit halten würde. Dann stellte er Jennie die Frage, für wen sie sich entscheiden würde, wenn sie mit mir und ihren Eltern in einem abstürzenden Flugzug säße und die Macht hätte, sich und zwei Personen zu retten. Ich fand die Frage in diesem Moment eigentlich ziemlich unpassend und sie konnte natürlich auf die Schnelle auch keine Antwort aus dem Hut zaubern. Was war das überhaupt für eine Frage? Wir waren jung, auf Abenteuertour durch Südamerika, hatten gerade ein leckeres Essen vertilgt, süffelten an unseren Bieren und der Neuhobbypsychologe Roberto wollte uns mit grundsätzlichen Charakteranalysen zu Leibe rücken.
So eine Frage würde man nie beantworten, vor allem nicht vor einem zur Salzsäule erstarrten Unheimlichen, bei dem sich nur noch der Mund und die Augen bewegten und der mittlerweile einen so starren Blick hatte, dass sich an den Stellen, die er anvisierte, faustdicke Brandlöcher bildeten. Jennie war auch etwas verunsichert und überlegte wohl, ob er diese Frage ernst gemeint hatte oder ob er sie sogleich mit seinem verschmitzten Lächeln als warm-up joke für eine weitere Kniffelrunde entlarven würde.
Als keine befriedigende Reaktion auf seine Kamikazefrage kam, machte er ein betroffenes Gesicht und eröffnete uns im Plauderton, dass es vielleicht ziemlich komisch klingen würde, aber er hatte gerade eine Ladung Crack eingenommen und sein momentaner Zustand sei die typische Folge, wenn er sich mit dem Teufelszeug vereinigen würde.
Mir fielen fast die Ohren vom Kopf. Hatte der Typ gerade in einem harmlosen Nebensatz verkündet, dass er sich eine nicht gerade gesunde Droge zugeführt hatte und sich uns nun in dem folgenden Rauschzustand präsentierte? Wir verhörten ihn, ob das sein Ernst gewesen wäre und er erklärte, dass er sich seit längerer Zeit in regelmäßig wiederkehrenden Phasen den ein oder anderen Würfel einschmeißen würde, um auf andere Gedanken zu kommen. Und ohne Aufforderung skizzierte er uns den Abgrund, vor dem er stand und den er nicht überbrücken konnte, aber den er vermittels der Droge zu verschleiern versuchte.
Nach seinem Maschinenbaustudium in Deutschland war er wieder nach Venezuela zurückgekehrt und hatte dort beharrlich auf sein persönliches, berufliches burn-out hingearbeitet. Nachdem ihm sein alter Beruf nichts mehr sagte, hatte er sich komplett umorientiert und bei der Tui als Fremdenführer angeheuert. Dort schien er wieder neuen Antrieb gefunden zu haben, bis an einem unglücklichen Tag die Teilnehmerin einer Reisegruppe bei einer Bergwanderung einen tödlichen Unfall erlitt. Die Frau kam auf einer Bergroute, die nicht den höchsten Schwierigkeitsgrad aufwies, vor einem Abgrund ins Straucheln und Roberto, der zwar direkt hinter ihr ging, musste dennoch machtlos mitansehen, wie das Unfallopfer den Abgrund hinunterfiel und viele Meter weiter unten reglos liegen blieb. Natürlich war die Frau sofort tot und Roberto gab sich, wie es so typisch ist in solchen Fällen, die Schuld an dem Ableben der Frau. Er als verantwortlicher Führer dieser Gruppe war natürlich für die Sicherheitsanweisungen zuständig, aber diese Wanderung war normalerweise immer ohne größere Schwierigkeiten abgelaufen und natürlich konnte man ihm wegen des Leichtsinns eines einzelnen nicht die Schuld geben. Dies alles zählte aber in diesen Momenten nicht und so entsprach die Reisegesellschaft seinem Wunsch einer Kündigung und er verbrachte eine lange und mutlose Zeit, in der auch mitansehen musste, wie seine Ehe den Bach herunterging und die Welt ihm fremd wurde. Seine Frau hatte ihn schon lange verlassen und als ultimativen Akt der Selbstgeißelung stand in seinem Wohnzimmer ein lebensgroßer Pappaufsteller eben dieser Ex-Frau, die in Venezuela eine zweifelsohne angesehene Rolle als Werbefrau für irgendein Waschmittel spielte. Das war ein weiterer Fingerzeig für Robertos verdrehten Sinn vom heimeligen Wohnen und während uns die „Regina“ Werbefrau aus der hinteren Ecke des Zimmers angrinste, beschlichen uns mulmige Gefühle, was nun noch kommen sollte, denn Roberto holte bereits wieder tief Luft, um uns weitere Bereiche seines Gefühllebens offenzulegen. Die nun folgenden Bekenntnisse ließen uns frösteln…



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